So fortschrittlich testet Mercedes-Benz!
Zur Eröffnung des neuen Lichtkanals wurde ich von Mercedes-Benz nach Immendingen – 130 km südlich von Stuttgart – eingeladen. Doch was mich auf dem 520 Hektar großen Prüf- und Technologiezentrum erwartete, sprengte meine Auffassungsgabe.Mercedes-Benz Prüf- und Technologiezentrum Immendingen
Oft braucht es Vergleiche, um Größenordnungen wirklich zu begreifen – mir geht es jedenfalls so, wenn ich Flächenangaben höre. Das Mercedes-Benz Prüf- und Technologiezentrum Immendingen umfasst beeindruckende 520 Hektar. Umgerechnet sind das 5,2 Quadratkilometer bzw. 5.200.000 m². Erst im Zuge meiner Recherche wurde mir bewusst, dass diese Fläche in etwa der Größe des 4., 5. und 6. Wiener Gemeindebezirks zusammen entspricht. Für Nicht-Wiener: Auch Graz-Geidorf ist ähnlich groß. Das Übersichtsfoto des Geländes vermittelt bereits einen eindrucksvollen ersten Eindruck.
Das Areal erstreckt sich über rund 3,5 × 2,5 Kilometer. Weil hier unter anderem Luchse ihren Lebensraum haben, wurde ein 33,5 Hektar großer Wildwechselkorridor geschaffen. Tiere sind in Immendingen zahlreich vertreten, wie uns Dr. Nils Katzorke, Leiter der Prüfgelände-Entwicklung, mit sichtlicher Begeisterung erzählt. Rund 120 Schafe fungieren als ökologische Rasenmäher, geschützt von Lamas – kein Scherz. Während die Schafe die niedrige Vegetation kurzhalten, übernehmen Yaks, eine aus Hochasien stammende und bis –40 °C kälteresistente Rinderart, die Pflege höherer Gräser und Büsche.
Zudem finden sich hier Biberhabitate, Greifvögel wie Wespenbussard und Rotmilan sowie bedrohte Arten wie der farbenprächtige Braune-Bär-Schmetterling. In zwei ehemaligen Munitionsbunkern, die beim Bau des Geländes erhalten blieben, leben heute zwölf verschiedene Fledermausarten – darunter das Braune Langohr. Auch das Ur-Schaf Europas, das Mufflon, wird hier gezüchtet.
Vom Bundeswehrgelände zum Hightech-Zentrum
„Munitionsbunker?“, mag man sich fragen. Zwischen 2009 und 2012 wurden 120 potenzielle Standorte im Umkreis von einer Stunde rund um Stuttgart geprüft, bevor die Wahl auf den ehemaligen Standortübungsplatz der Bundeswehr, die Oberfeldwebel-Schreiber-Kaserne, fiel. Ein entscheidender Faktor war die offene Aufnahme durch die Gemeinden Immendingen und Tuttlingen.
Nach dem Abzug der über 800 Soldaten hinterließ die Bundeswehr eine spürbare Lücke – eine Lücke, die Mercedes-Benz mit rund 250 fest angestellten Mitarbeitenden und über 2.500 Testfahrern aus aller Welt füllte. Diese wechseln sich im Einsatz ab und finden zwischen ihren Schichten Ausgleich auf Sportplätzen oder im firmeneigenen Fitnessstudio. Gearbeitet wird in Immendingen üblicherweise in zwei Schichten von fünf Uhr früh bis elf Uhr nachts – an 365 Tagen im Jahr. Selbst Weihnachten und Neujahr ruht der Betrieb nicht. Bei Bedarf wird auch rund um die Uhr getestet.
400 Millionen Euro Investition
Von 2015 bis 2018 wurde das Gelände aktiv aus- und umgebaut. Über vier Millionen Kubikmeter Erde wurden bewegt – damit war Immendingen zeitweise die größte Baustelle Europas. Laut Dr. Katzorke waren sogar umliegende Landwirte in den Bau eingebunden. Im Einsatz: rund 120 Schwerlastfahrzeuge (60-Tonner), wie man sie sonst nur aus dem Bergbau kennt.
Mercedes-Benz investierte zunächst rund 200 Millionen Euro in das Gelände nordwestlich des Bodensees. Inzwischen kamen weitere 200 Millionen Euro für neue Prüfstände und den hochmodernen Lichtkanal hinzu.
Die erste Teststrecke – die Gravel Road – wurde bereits 2015 in Betrieb genommen. Sie ist heute etwa 12 Kilometer lang und dient sowohl als Test- als auch als Einsatzstrecke für den Sicherheitsdienst. Patrouillen sind nicht nötig: Das gesamte Gelände ist mit sensorgestützten Zäunen und Kameras ausgestattet. Auch gegen Drohnen ist man gewappnet, wenngleich laut Katzorke solche Vorfälle selten vorkommen.
Neben dem Sicherheitsdienst verfügt das Zentrum über eine eigene Werksfeuerwehr mit fünf Einsatzfahrzeugen. Sie wird häufiger gerufen, als man annehmen würde – etwa, wenn die Überwachungssysteme eines Testfahrzeugs Alarm schlagen, weil sich eine Batterie erhitzt. Auch die Gemeinde Immendingen profitiert: Da die Feuerwehr aus Tuttlingen rund 15 Minuten Anfahrtszeit benötigt, kann die MB-Feuerwehr in etwa fünf Minuten vor Ort sein. Schwere Unfälle habe es bislang keine gegeben.
„Bad Roads Well Built“
Täglich können bis zu 400 Fahrzeuge parallel getestet werden, meist sind es zwischen 100 und 200. Von den insgesamt 520 Hektar Fläche sind nur etwa 30 Hektar versiegelt – 74 Kilometer Straßen aus Asphalt oder Beton. Besonders beeindruckend: 2022 wurde das gesamte Gelände gemeinsam mit einem Partnerunternehmen mit einer Genauigkeit von unter einem Millimeter digitalisiert. Wo Vermessungsfahrzeuge nicht hinkamen, kamen Drohnen zum Einsatz. Mercedes-Benz nennt das Ergebnis „Digital Twin“ – den digitalen Zwilling.
So lassen sich Testfahrten bereits virtuell simulieren. Etwa 400 Fahrwerke werden zunächst digital entwickelt; die fünf besten werden anschließend real aufgebaut und im Fahrzeug getestet. Damit die Vergleichbarkeit erhalten bleibt, wurde gemeinsam mit der TU Darmstadt ein spezieller Asphalt entwickelt, der sich – anders als herkömmlicher – nicht verändert. Das Motto: Bad Roads Well Built.
Auf dem „Heide-Dauerlauf“, einer der über 30 Testmodule, fahren Fahrzeuge vollständig autonom. Sie kehren nur zum Tanken, Laden oder bei Defekten zur Basis zurück. Jedes Fahrzeug legt dort 2.000 bis 2.500 Kilometer zurück – ein Kilometer simuliert dabei rund 150 Kilometer schlechter Straßen. Pro Fahrzeug und Tag entstehen so etwa zwei Gigabyte an Sensordaten.
Das Hauptaugenmerk des Prüfzentrums liegt auf autonomem Fahren und batterieelektrischen Fahrzeugen. In Schweden hingegen konzentriert sich Mercedes-Benz auf ESP- und Fahrdynamiktests. Auch dort wurden die Strecken digital erfasst. Schnee jedoch verändert sich durch Befahren, weshalb die Simulation hier regelmäßig mit der Realität abgeglichen werden muss – sogar Schneehaufen wurden für „Snow-Pile-Bumping-Tests“ digitalisiert.
Patentierte Regenmaschine und Lichtentwicklung
Das Team um Dr. Katzorke entwickelt nicht nur Testverfahren, sondern auch eigene Prüfgeräte. So entstand etwa ein patentierter Straßenmarkierungsroboter, an dem mittlerweile externe Unternehmen Interesse zeigen. Die Markierungen müssen regelmäßig angepasst werden, um Assistenzsysteme unter realistischen Bedingungen – von China bis Australien – zu testen.



Ebenfalls eigens entwickelt: ein System zur Simulation blendenden Sonnenlichts sowie eine patentierte Regenmaschine, die den Weltrekordregen von 1920 in Füssen reproduziert – inklusive realistischer Fallrichtung, Tropfengröße und -geschwindigkeit. Zudem wurde hier Deutschlands erstes privates 5G-Netz in Betrieb genommen.
Auch die Topografie trägt zur Testvielfalt bei: Die natürliche Vulkanebene Baden-Württembergs bietet 180 Meter Höhenunterschied – ideal für die Serpentinenstrecke „Schwäbische Alb“. Zum Vergleich: Das Testgelände in Papenburg hat nur 20 Zentimeter Höhenunterschied. Für gezielte Steigungstests existieren zusätzlich sieben Rampen mit Neigungen von 12 bis 100 Prozent. Die 70-Prozent-Rampe (35 °) schafft der neue vollelektrische GLC mühelos; 100 Prozent (45 °) meistern nur die G-Klasse und der Unimog – letzterer könnte sogar 110 Prozent bewältigen.


Licht zur Unfallvermeidung
Der eigentliche Anlass meines Besuchs war jedoch die Vorstellung des neuen Lichtkanals: 135 Meter lang, 14 Meter breit – präsentiert von DI Stefan Töpfer, Leiter der Exterieur-Lichtentwicklung bei Mercedes-Benz.
Töpfer erklärt: Nur 20 Prozent aller Fahrten finden bei Nacht statt, doch 40 Prozent der schweren Unfälle geschehen in der Dunkelheit – 65 Prozent davon auf unbeleuchteten Landstraßen. Hervorragende Beleuchtung ist daher entscheidend zur Unfallvermeidung. Sie zeichnet sich durch große Reichweite, gleichmäßige Ausleuchtung und optimale Breite aus. Während normales Abblendlicht zwischen 65 und 80 Metern reicht, erzielt hochwertiges Fernlicht über 600 Meter.
Der neue GLC verfügt über ein sogenanntes Ultra-Range-Fernlicht, das mitlenken und bis zu zehn Objekte – etwa Autos oder Radfahrer – gezielt ausblenden kann. Wie detailverliebt hier gearbeitet wird, zeigt ein Beispiel: Nachdem die Halle fertiggestellt und asphaltiert war, stellte man fest, dass der Asphalt keine natürliche Alterung zeigte. Daher wurde er abgeschliffen und zehnmal industriell gereinigt, um realistische Bedingungen zu schaffen.
Fazit
Für mich ist kaum vorstellbar, dass ein anderer Hersteller ähnlich viel Energie in die Fahrzeugentwicklung steckt wie Mercedes-Benz in Immendingen. Nein, ich werde nicht dafür bezahlt, das zu sagen. Ich kenne viele Testgelände – beruflich wie privat –, doch was ich hier gesehen habe, übersteigt jede Vorstellung.
Hier wird mit Leidenschaft, Präzision und im Einklang mit der Natur an der Qualität des deutschen Automobils gearbeitet. Chapeau, Mercedes-Benz!